
Irgendwie, ich weiß gar nicht mehr genau warum, bin ich in einer Trauerrunde gelandet. Es war gar nicht unmittelbar nach Kathis Tod, sondern zwei bis drei Jahre später. Mein Schmerz war damals nicht mehr ganz so frisch, ich konnte mich mittlerweile schon mit Menschen über sie unterhalten, ohne ständig in Tränen auszubrechen. Dennoch war ich neugierig darauf, wie andere mit Verlust umgehen.
Somit saß ich dann einmal im Monat in einer kleinen Runde von fünf Damen und einem Herrn. Zu Beginn des Treffens haben wir uns reihum vorgestellt. Jeder erzählte kurz über sich und sprach über den Menschen, den er oder sie verloren hatte. Ein, zwei Schicksale nahmen mir den Atem, ich stellte meines dazu in Relation und war froh, dass ich mit Kathi eigentlich eine gute Zeit gehabt hatte. Ich empfand das erste Mal so etwas wie Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass wir während ihrer Krankheit noch viele Dinge nachholen konnten, über vieles noch reden konnten. Das haben in dieser Runde nicht alle so erlebt. Und das tat mir leid, ich litt mit diesen Menschen mit.
Unsere Gruppenleiterin war eine zurückhaltende, einfühlsame Dame, die uns allen viel Freiraum gab. Sie zwang uns kein bestimmtes Programm auf, sondern ließ uns den Ablauf selbst gestalten. Vor allem hörten wir einander zu. Wir unterbrachen uns nicht gegenseitig, fällten kein Urteil und hatten keine Scheu, wenn doch Tränen geflossen sind. Es tat mir einfach gut, ich wusste, ich bin nicht alleine. Wir alle hatten einen geliebten Menschen verloren und wir trauerten unterschiedlich.
Mit der Zeit machten wir Fortschritte, hatten wir anfangs noch recht verhalten von unseren Verstorbenen erzählt, erhielten sie im Laufe der Zeit einen Namen und wir zeigten uns gegenseitig Fotos. Auch das fand ich sehr schön und die Gruppe wurde mir immer vertrauter. Manches Mal lachten wir sogar gemeinsam.
Ich erinnere mich, dass unsere Gruppenleiterin beim dritten oder vierten Treffen eine sehr einfühlsame Frage stellte: Sie wollte wissen, wie wir zu Hause mit Fotos umgehen. Ob wir bewusst Erinnerungsfotos aufhängen oder ob es für uns vielleicht zu schmerzhaft wäre, sie anzusehen. Die Antworten waren so vielfältig wie die Menschen selbst.Für mich persönlich sind Fotos von Kathi sehr wichtig. Sie sind für mich wie kleine Fenster in die Vergangenheit, die mir Halt geben. In meiner Wohnung hängt eine Bilderwand, auf der Fotos von unserem letzten gemeinsamen Urlaub auf Sylt zu sehen sind – Momente, die ich nie vergessen möchte.
Andere Menschen haben ihre Erinnerungen auf eine andere Weise bewahrt, zum Beispiel durch einen kleinen Altar, auf dem sie ein Foto ihres geliebten Menschen platziert haben. An diesem Abend gab es auch eine sehr emotionale Reaktion einer Witwe. Sie sagte, dass sie im Moment kein Foto von ihrem Mann ansehen könne, weil er sich das Leben genommen hat und sie mit ihren Söhnen ganz allein zurückgelassen hat. Ihre Worte zeigten, wie tief die Gefühle sind, die mit solchen Erinnerungen verbunden sind, und wie unterschiedlich jeder Mensch damit umgeht.
Als unser Herr dran war, er hatte vor vier Monaten seine Frau durch Krebs verloren, antwortete er: „Ich glaube, ich werde jetzt alle Bilder abnehmen. Wenn ich eine neue Frau kennenlerne, was soll sie sich denn denken, wenn sie die Erinnerungsstücke an die Vorgängerin bei mir in der Wohnung sieht?“ Uns Damen blieb der Mund offenstehen, wir waren schreckensstarr. Mit so einer Antwort hatten wir alle nicht gerechnet. Bei mir regte sich so etwas wie Bewunderung dafür, dass er so fokusiert auf die Zukunft war. Ich steckte nach drei Jahren immer noch fest, starrte auf meine Bilderwand und konnte es immer noch nicht fassen.
Und tatsächlich! Kurze Zeit später traf unsere Gruppenleiterin besagten Witwer beim Spaziergang mit seiner neuen Flamme. Und die sah seiner verstorbenen Ehefrau unwahrscheinlich ähnlich. Übel genommen hat ihm das keiner, schön, wenn er eine neue Liebe gefunden hat.